Was das Wirtschaftsstrafrecht vom Loveparade-Verfahren lernen kann
Text als PDF21 Tote, 600 Verletzte, aber nur mittelmäßiges öffentliches Interesse an Strafverfolgung?
Das Landgericht Duisburg hat das Strafverfahren gegen sieben Angeklagte im Love Parade-Prozess mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft gegen Zahlung von Geldauflagen eingestellt. Das Verfahren gegen diese Angeklagten wird damit rechtskräftig und vor allem ohne Bestrafung abgeschlossen. Staatsanwaltschaft und Gericht haben zuvor zwar noch einmal betont, dass sie die betroffenen Angeklagten auch nach 100 Verhandlungstagen nicht für unschuldig an dem Tod von 21 Veranstaltungsteilnehmern und über 600 Verletzten halten (ansonsten hätte auch ein Freispruch erfolgen müssen). Staatsanwaltschaft und Gericht haben aber nur eine geringe oder allenfalls mittelschwere Schuld gesehen, so dass ein öffentliches Interesse an einer weiteren Strafverfolgung der Angeklagten nicht so groß sei, dass es nicht durch die Erfüllung von Zahlungsauflagen (nach der Presse von jeweils maximal € 10.000,00 pro Person) befriedigt werden könne.
Ausgangspunkt: § 153a StPO – auch im Wirtschaftsstrafrecht oft kritisiert
Die hierin liegende Botschaft, dass es kein öffentliches Interesse gebe, ein Verfahren, in dem es um die Verantwortung für den Tod von 21 Menschen und Hunderten Verletzten ging, in jedem Fall einem Urteil zuzuführen, ist vielfach auf Unverständnis gestoßen. Die Einstellungsentscheidung beruht dabei auf der Vorschrift des § 153a StPO, der tatsächlich bei nicht entgegenstehender Schuld eine Einstellung des Verfahrens gegen Zahlung etwa von Geldauflagen erlaubt. Es handelt sich dabei indes um eine Vorschrift, die auch und gerade im Wirtschaftsstrafrecht oder Steuerstrafrecht häufig Anwendung findet, deren Anwendung aber auch hier in öffentlichkeitswirksamen Fällen immer wieder Unverständnis hervorruft. Das ist Grund genug, aus Anlass des Loveparade-Vefahrens auch an dieser Stelle die Grundsätze strafrechtlicher Schuldgewichtung und damit auch der Schuldgewichtung im Rahmen von Einstellungsentscheidungen nach § 153a StPO noch einmal zu beleuchten.
Die zwei Seiten des strafrechtlichen Schuldurteils und ihre Anwendung in Strafverfahren
Dabei ist von ausschlagender Bedeutung, dass für das Gewicht der strafrechtlichen Schuld eines Angeklagten das Ausmaß der von ihm (mit) verursachten Folge, das sogenannte „Erfolgsunrecht“, nicht allein ausschlaggebend ist. Vielmehr spielt das sogenannte „Handlungsunrecht“, also die Frage, wie gravierend das Fehlverhalten des Angeklagten, das überhaupt erst zu der Folge geführt hat, war eine maßgebliche Rolle.
Was unter „Handlungs-„ und „Erfolgsunrecht“ zu verstehen ist, wird etwa anhand der alltäglichen Redewendung deutlich, etwas sei „ja eigentlich gut gemeint gewesen“,– damit ist nichts anderes gemeint, als dass bei einer gerechten Beurteilung eines negativen Ergebnisses nicht nur auf die ärgerlichen Folgen zu achten ist, sondern auch die dahin führenden Handlungen mit den begleitenden Intentionen und Rahmenbedingungen in den Blick genommen werden sollten.
Entsprechend gehört zu den wichtigsten Erkenntnissen eines aufgeklärten Strafrechts, dass eine bewirkte Folge nicht allein von Bedeutung für der Beurteilung der Schwere einer strafrechtlichen Schuld ist, sondern auch die Besonderheiten der zu diesem Erfolg führenden Handlung betrachtet werden müssen. In der Konsequenz dessen liegt es, dass auch bei den schwersten denkbaren Folgen – dem Tod eines oder gar mehrerer Menschen – nicht automatisch auch vom schwersten denkbaren Unrecht ausgegangen werden kann, sondern erst noch der Verursachungsbeitrag eines jeden Beteiligten genau zu betrachten ist. Es geht an dieser Stelle um nichts weniger als die Abgrenzung kriminellen Unrechts von tragischem Unglück.
Die weite Bandbreite denkbarer strafrechtlicher Schuld selbst bei Todesfällen
Das kann eine „Alles-oder-Nichts“-Entscheidung sein, um im Extremfall kann daher auch die Mitverursachung eines Todeserfolgs als reines Unglück strafrechtlich gänzlich irrelevant sein und ein Freispruch erfolgen. Aber auch wenn ein Verhalten grundsätzlich strafrechtlich relevant ist, muss dieses noch feiner gewichtet werden, um die schuldangemessene Strafe zu finden. Zu dieser Feinjustierung nötigen nicht zuletzt schlicht die gesetzlichen Strafrahmen, die beim Tod eines Menschen etwa von lebenslänglicher Freiheitsstrafe (bei Mord) bis hin zur Möglichkeit einer bloßen Geldstrafe (bei nur fahrlässiger Tötung) reichen – und wo genau die schuldangemessene Strafe liegt, richtet sich nach den näheren Charakteristika der todesverursachenden Handlung, eben dem „Handlungsunrecht“. Dieses kann dann aber eben auch bei einem Todesfall so beschaffen sein, dass es zwar noch nicht für einen Freispruch reicht, gleichwohl aber doch von geringem Gewicht ist, dass zur Schaffung von Rechtsfrieden eine Zahlungsauflage ausreichend erscheint – etwa, wenn in einem arbeitsteiligen Prozess ein ganz leichtes Versäumnis eines einzelnen Angeklagten, eventuell erst zusammen mit weiteren, für sich genommen ebenfalls leichten Versäumnissen, mitursächlich für einen Todesfall geworden ist.
Darüber, ob auf Basis dieser allgemeinen Erwägungen die konkreten Einstellungen im Love Parade-Prozess inhaltlich zutreffend sind, kann sich der Verfasser dieser Zeilen kein Urteil erlauben. Dass Strafverfahren gegen mehrere Angeklagte, die menschliche Tragödien zum Gegenstand hatten, letztlich gegen Zahlungsauflagen eingestellt werden, gab es allerdings schon immer, und das sogar schon vor Einführung des § 153a StPO in die Strafprozessordnung, etwa im Rahmen des sogenannten Contergan-Verfahrens Anfang der 70er Jahre, in dem die Verantwortlichkeit für schwerste körperliche Schäden einer Vielzahl von Neugeborenen aufgrund bestimmter Medikamente zu verhandeln war. Auch dieser Blick in die Rechtsgeschichte belegt, dass die Annahme geringer individueller Schuld trotz schwerster Folgen kein Fremdkörper unserer Strafrechtsordnung ist.
Referenz für Wirtschaftsstrafverfahren und Steuerstrafverfahren
Was bedeutet dies nun für das Wirtschaftsstrafrecht bzw. Steuerstrafrecht? Natürlich können für sich genommene unscheinbare Handlungen auch gravierende wirtschaftliche Folgen haben: Wer ein großes Unternehmen leitet, bewegt tagtäglich viel Geld, so dass eine schnell getroffene Entscheidung, eventuell auch unter Zeitdruck und auf suboptimaler Faktenbasis bei gleichzeitig schwer zu durchschauender Rechtslage, schnell auch große finanzielle Auswirkungen haben kann.
Die oben genannten Maßstäbe für die Bestimmung strafrechtlicher Schuld gelten aber natürlich auch hier: Die schiere Größe eines verursachten Schadens ist auch hier nicht hinreichend, um die Schwere vorliegenden Unrechts zu beschreiben. Die Annahme geringer oder jedenfalls durch Zahlungsauflagen überwindbarer Schuld ist vielmehr auch dann denkmöglich, wenn Unternehmen oder der Fiskus Schäden im mehrstelligen Millionenbereich erlitten haben. Dies scheint gerade vor dem traurigen Hintergrund des Loveparade-Verfahrens besonders anschaulich: Wenn nicht einmal der Tod eines oder gar mehrerer Menschen einer Verfahrenseinstellung nach dieser Vorschrift entgegenstehen müssen, warum sollte dies bei einem noch so hohen finanziellen Schaden anders sein? Noch deutlicher: wenn Verfahrenseinstellungen schon in Verfahren möglich sind, bei denen es um Todesfälle geht, die naturgemäß nie wieder gut gemacht werden können, warum sollte dies nicht erst recht im Wirtschaftsstrafrecht bzw. Steuerstrafrecht möglich sein, wo es regelmäßig nur um finanzielle Schäden geht, die grundsätzlich immer ausgeglichen werden können und oft auch werden?
Das sind die inneren Gründe, warum es auch in Wirtschaftsstrafverfahren und Steuerstrafverfahren mit zum Teil extrem hohen finanziellen Schäden legitimer Weise zu Verfahrenseinstellungen nach § 153a StPO kommen kann und häufig auch kommt. Eine Einstellung des Strafverfahrens gegen Zahlung einer Geldauflage ist schlicht eine der der möglichen Erledigungsarten der gesetzlich vorgesehenen Skala an Reaktionsmöglichkeiten. Es ist somit eine schlichte Selbstverständlichkeit und eben nichts Verwerfliches, wenn Staatsanwälte und Richter nach gewissenhafter Prüfung einen Fall einer solchen Erledigung zuführen wollen bzw. wenn die Verteidigung eine solche Erledigungsweise vorschlägt. Um Rechtsfrieden herzustellen und die Entscheidungen auch für Menschen nachvollziehbar und verständlich zu machen, die nicht tagtäglich mit dem Strafrecht befasst oder den tragenden Gründen der Entscheidung im Einzelnen vertraut sind, wäre es allerdings erwägenswert, jedenfalls in Fällen mit großer Öffentlichkeitswirkung auch Einstellungsentscheidungen ebenso ausführlich zu begründen wie einen Schuldspruch oder Freispruch in einem Urteil. Wie so oft würde Transparenz auch hier sicherlich zu Akzeptanz in der Öffentlichkeit beitragen.
Parsch Sauer Nuzinger Rechtsanwälte
Mannheim, 15. März 2019